Interview von Romain Schneider mit dem Tageblatt

Romain Schneider: "Wichtig ist: Transparenz und die Dokumentation aller Abläufe"

Interview: Tageblatt (Claude Clemens)

Tageblatt: Dass die Berufe im Gesundheits- (FHL) sowie Pflege- und Sozialbereich (SAS) dem öffentlichen Dienst gleichgestellt sind, ist gesetzlich verankert. Dass Bedarf besteht gewisse Karrieren aufzuwerten (Erzieher, Sozialpädagoge, Krankenpfleger). darüber besteht weitgehend Einigkeit. Die Regierung hat ihren finanziellen Beitrag schriftlich bestätigt, Erklären Sie dem Laien, wieso es in diesem Sektor trotzdem einen Sozialkonflikt gibt?

Romain Schneider: Ganz allgemein: Jeder, der eine Arbeit erledigt, soll dafür einen angemessenen Lohn und ein angemessenes Arbeitsumfeld erhalten. Nun ist dies ein sehr schwieriger Sektor, wegen des direkten Kontakts mit den Menschen.

Zur Situation: 2014 hat sich die Regierung gegenüber den Gewerkschaften engagiert, was die Umsetzung des Gehälterabkommens im öffentlichen Dienst angeht sowie die Aufwertung von Karrieren. Die "enveloppe financière" ist nun bewilligt, diese stellt den"Rahmen" dar (5,15% der aktuellen Gehältermasse werden zur Verfügung gestellt, Anm. d. Red.). Ich war ja nicht in den Verhandlungen dabei, aber die Arbeitgeberseite sagt wohl: dieser "Rahmen" gilt für fünf Jahre. Die Gewerkschaften wollen aber Garantien über fünf Jahre hinaus. Was die Aufwertung der Karrieren angeht, so ist das Ausrechnen der finanziellen Auswirkungen sehr, sehr kompliziert. Das war eine Heidenarbeit von allen Seiten.Es ist schade, dass das Ganze derzeit am Zeitrahmen zu scheitern scheint. Ich hoffe, dass in der Schlichtung eine Lösung gefunden wird, im Sinne der Arbeitnehmer und der Betreuten.

Tageblatt: Wenn der Zeitraum das Problem zu sein scheint, was sagte denn hier die Regierung?

Romain Schneider: Alle Berechnungen wurden über 30 Jahre durchgeführt. Aber eine Regierung kann keine Garantie über 30 Jahre ausstellen. Aber mir scheint logisch: Wenn Punktwerte erhöht werden und Karrieren aufgewertet, kannst du ja nicht plötzlich aufhören, dies auszuzahlen! Die 5,15% der "enveloppe" stellen in der Tat die Auswirkung für die ersten fünf Jahre dar. Aber jetzt muss jeder seine Verantwortung übernehmen. 

Tageblatt: In einem punktuellen Einzelfall (Bettemburg, CIPA "An de Wissen") haben Sie sich erfolgreich als Vermittler betätigt Besteht hier auch eventuell so eine Möglichkeit?

Romain Schneider: In dem Fall erfolgte meine Vermittlung nach der gescheiterten Schlichtung. Die müsste man hier also zunächst abwarten. Es war allerdings auch eine spezielle Situation: Keine der beiden Seiten wollte die jeweilige Maßnahme - die Direktion den Sozialplan, die Gewerkschaften den Streik - wirklich. Die Details zu einer dauerhaften Lösung müssen nun allerdings noch ausgearbeitet werden.

Tageblatt: Wäre eine staatliche Vermittlung nicht sogar ein Muss? Immerhin steuert der, Staat direkt und via CNS das meiste Geld in dieses System? 

Romain Schneider: Der Staat ist natürlich ein großer Akteur. Aber der Sozialdialog muss weitergeführt werden, und die Unabhängigkeit der Sozialpartner muss gewahrt bleiben. Der Staat setzt ja den Rahmen und die Regeln fest. Dieses System hat sich in Luxemburg wirklich bewährt, und das soll auch so weitergehen. Über viele Jahrzehnte wurden viele gute Erfahrungen gemacht. Derzeit wirkt der Staat ja wieder ein über ein neues Spitalgesetz und die Reform der Pflegeversicherung, um das System dauerhaft abzusichern. 

Tageblatt: Taugt das System denn überhaupt noch? Auch die Krankenhäuser werden Integral (80% direkt, 20% CNS) vorn Staat finanziert, müsste da der Staat nicht mehr Mitspracherecht haben? Das Recht, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, zum Wohle des "Kunden", also des Patienten? 

Romain Schneider: Der Staat hat in der Vergangenheit Verantwortung übernommen, z.B. die Gesundheitsreform von 2010, die eine größere strukturelle Reform des Systems der Krankenversicherung war und sowohl bei den Einnahmen wie auch bei den Ausgaben angemessene Kriterien festlegte, um deren Entwicklung besser steuern zu können. Aber die Reform zahlt sich jetzt aus. Auch das Spitalgesetz wird vieles erneuern. 

Wichtig ist: Transparenz und die Dokumentation aller Abläufe. Da wird es klare Regeln geben, also auch zu den entsprechenden Kontrollmöglichkeiten. Das ist besonders wichtig für die CNS, denn das ist ja nicht nur der Staat. Hier zahlen ja auch alle versicherungspflichtigen Bürger und alle Arbeitgeber ein. Deswegen gibt es ja dort auch die Quadripartite-Sitzungen zweimal im Jahr, u.a. um die Budgets festzulegen. 

Tageblatt: Beim Spitalgesetz wird derzeit v.a. über Ärzte und deren Clinch mit der Gesundheitsministerin diskutiert. Der Patient scheint in weiter Ferne... Müsste nicht mehr über die Qualität diskutiert werden? Wie gut ist das Luxemburger Gesundheitssystem? Und das Sozialversicherungssystem? 

Romain Schneider: Beide gehören in ihrem Bereich mit zu den Besten auf der Welt. Es gibt Leistungen auf einem sehr hohen Niveau, und auch die Qualität stimmt. Aber es ist wie überall: Man muss nach vorne schauen und auf Neues reagieren. Die Menschen leben länger, das hat Auswirkungen sowohl auf das Gesundheits- wie auch das Pensionssystem. Man muss auf Änderungen in der Arbeitswelt eingehen. Gleichzeitig muss man aber auch auf die dauerhafte Absicherung achten. Deswegen müssen wir jetzt, wo es gut läuft, auch bereits Bilanz ziehen und unter Sozialpartnern schauen, wie es weitergehen könnte. Das ist quasi ein "Luxus", andere Länder hangeln sich regelrecht von Monat zu Monat. Mit den bereits erfolgten Reformen - Gesundheit, Pensionen und „assuranceaccident" - sowie der bevorstehenden Reform der Pflegeversicherung haben wir bei vier Säulen des Systems schon mal Wichtiges geleistet.

Ein weiteres Beispiel: Ich war froh, dass in der aktuellen guten Situation der CNS kein Druck entstand, unbedingt Beitragskürzungen herbeiführen zu wollen. Das hätte dann für jeden Bürger vielleicht 2, 3 Euro ausgemacht ... und in ein paar Jahren hätten wir die Beiträge möglicherweise wieder erhöhen müssen. Stattdessen haben wir Leistungsverbesserungen durchgezogen, die nachhaltig und verantwortungsvoll sind. 

Tageblatt: Zum Sozialversicherungssystem: Sowohl der Bericht 2015 der CNS wie auch der IGSS-Bericht zum Pensionssystem 2016 berichten von guten bis sehr guten finanziellen Momentaufnahmen; bei der CNS wurde inzwischen der maximal erlaubte Prozentsatz bei den Reserven (20%) überschritten und daraufhin Leistungsverbesserungen beschlossen. Beide Berichte mahnen aber auch recht eindringlich zur Vorsicht. Ist denn nun alles im Lot? Was steht auf wackeligen Füllen? Wo droht mittel- oder langfristig eine Katastrophe? 

Romain Schneider: Bei der CNS ist die finanzielle Situation in der Tat sehr gut. Wir stehen bei Reserven von 24%, was wohl auch 2018 noch einmal der Fall sein wird; für 2017 wurde im Budgetgesetz der maximal erlaubte Prozentsatz in Abstimmung mit allen Akteuren ausgesetzt, um in aller Ruhe die Entwicklung zu analysieren und um mit den Sozialpartnern eine dauerhafte Lösung zu definieren. Wir wären also gerüstet für einen wie auch immer gearteten wirtschaftlichen Einbruch; oder auch einfach für mehr Ausgaben. Im neuen Spitalgesetz werden beispielsweise ja auch einige Maßnahmen struktureller Natur getroffen. In Zukunft wird auch immer mehr spezialisiertes Fachpersonal benötigt. Aber wir haben Spielraum, um zu reagieren. Es ist eine glückliche Situation, bei diesem Schiff - und es ist ein sehr großes Schiff - nicht von heute auf morgen das Steuer herumreißen zu müssen.

Dass die Wirtschaft brummt, ist natürlich ein Glück für alle politischen Akteure. Aber es ist nicht nur Glück: Investoren finden hier ein Umfeld vor, das es nicht überall gibt. Sozialer Frieden, Stabilität, Kontinuität. Und das ist kein Zufall.

Tageblatt: Zu den Pensionen: Der IGSS-Bericht wird interpretiert wie der Staatshaushalt - mit Positionen, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten. Während manche wieder eine "Rentenmauer" sehen, sagen andere: Die Pensionen sind sicher und es ist noch ausreichend Zeit, sich über notwendige strukturelle Änderungen Gedanken zu machen. Liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte?

Romain Schneider: Was ich reell sehe: Dieser Bericht wurde wie vorgesehen zum im Regierungsprogramm vorgesehen Zeitpunkt von der IGSS erstellt. Er wird nun von der Regierung in einer Arbeitsgruppe analysiert und diskutiert. Wie können wir das Pensionssystem absichern für kommende Generationen? Im Moment sind wir mit den Reserven für über vier Jahre abgesichert, Deutschland liegt bei vier Wochen! Die Pensionsreform hat gegriffen. Die eingesetzten Parameter, die viel kritisiert wurden, haben genau wie vorgesehen ihre Effekte gehabt. Wir müssen also schon mal nicht von heute auf morgen eine Kurskorrektur vornehmen.

Es gibt drei mögliche Renteneintrittsalter: Das legal vorgesehene von 65 Jahren sowie frühzeitig mit 60 oder 57 Jahren, wenn man die Bedingungen erfüllt. Das durchschnittliche reale Renteneintrittsalter in Luxemburg liegt bei ca. 59 Jahren. Das müssen wir versuchen, näher an die 65 Jahre heranzuführen. Die Menschen sind gesünder und können so auch ihre gesammelte Erfahrung länger einbringen.

Durch die Pensionsreform —aber auch dank des Wirtschaftswachstums natürlich — haben sich alle Zahlen des Systems verbessert, und alle hypothetischen Stichdaten haben sich nach hinten verschoben. Wir haben also Zeit. Die "Lösung" des Problems, wenn man das denn so nennen kann, ist ein Gesamtpaket, das vielen Elementen Rechnung tragen muss: Lebensalter, Arbeitszeit, Beiträge, neue Formen des Zusammenlebens ... 

Tageblatt: Sie haben die Reserve erwähnt: Sie beträgt aktuell 4,4 Mal die Jahresbeiträge; das gesetzlich festgelegte Minimum von 1,5 Mal würde 2034 erreicht ... wenn man rein gar nichts am System ändern würde. Dass dies eintritt - absolut keine Änderungen - ist unvorstellbar. Gibt es einen konkreten Kalender für die von Ihnen erwähnte Arbeitsgruppe?

Romain Schneider: Wir reden hier nicht über zwei bis drei Jahre, sondern einen sehr langen Zeitraum. Es ist ganz klar, dass das Pensionssystem 2030 ein anderes sein wird als heute. Die Arbeitsgruppe, die vom Regierungsrat wie im Regierungsprogramm vorgesehen eingesetzt wurde, setzt sich zusammen aus Sozialversicherungs- und Finanzministerium sowie allen Berufskammern. Zuerst wird eine reine Zahlenanalyse vorgenommen; dann werden mögliche "pistes de réflexion" ausgearbeitet. Diese könnten möglicherweise bis Ende des Jahres fertig sein und würden dann an die Regierung gehen. Dann würden Diskussionen mit den Sozialpartnern, im Parlament erfolgen. Aber wie gesagt: es besteht kein Zeitdruck. 

Tageblatt: Der eine Minister Schneider sprach laut aus, dass man in Zeiten von Digitalisierung und Produktivitätssteigerungen irgendwann nicht an einer Diskussion über Arbeitszeiten vorbeikommen werde. 
Wird der andere Minister Schneider derjenige sein, der laut ausspricht, dass man mit den derzeitigen Lebenserwartungen irgendwann nicht an einer Diskussion über das Renteneintrittsalter vorbeikommt? 

Romain Schneider: Meine Aussage ist folgende: "Wir müssen an der Absicherung der Pensionen für die zukünftigen Generationen arbeiten." Das wird eine Diskussion sein nicht nur über das Renteneintrittsalter, sondern über ein "Gesamtpaket", wie ich es bereits erwähnte. 

Tageblatt: Im Zusammenhang mit einer sich rasant ändernden (Arbeits-)Welt: Wie stehen Sie der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens gegenüber? 

Romain Schneider: Hier stellt sich zunächst die Frage: Was will man damit erreichen? Ich würde es mal so formulieren: Dass jeder Mensch in Würde soll leben können. Hier in Luxemburg haben wir ein exzellentes soziales Netz. Es fallen einige durch die Maschen, das ist nicht gut, wir müssen es also noch enger stricken. Aber wenn man garantieren kann, dass die Löhne in Ordnung sind, die Pensionen, die Dienstleistungen stimmen, im Bereich Wohnungsbau werden derzeit Anstrengungen unternommen ... ich denke, dass man dann würdevoll leben kann.

Man muss aber wohl auch die unterschiedlichen bestehenden Systeme in Betracht ziehen. In Finnland gibt es nun ein Pilotprojekt, mal schauen, was für Resultate und Erfahrungen dieses bringt. Aber die werden mit Sicherheit nicht 1:1 anderswo umsetzbar sein. Mit unserem Sozialnetz müsste man sich fragen: Brauchten wir überhaupt ein Grundeinkommen? Bringt es einen Mehrwert? 

Tageblatt: Der Sozialdialog in Luxemburg scheint schweren Zeiten entgegenzugehen, sieht man sich die zum Teil völlig gegensätzliche Positionen von Salariat und Patronat bei der letzten CES-Sitzung an. Teilen Sie diese Meinung?  

Romain Schneider: Ich sehe das so, dass wir aus einer Zeit heraus kommen, wo der Sozialdialog schlecht war.
2014 wurde er gemeinsam von allen Partnern wieder angekurbelt, jeder arbeitete mit. Nun ist wieder ein Zeitpunkt gekommen, wo grundsätzliche Positionen "markiert" werden. Das muss man sich alles anhören und dann schauen, wie man weiterkommt. Von hier über Kompromisse bis zu einem finalen Resultat ist es ein weiter Weg. Das funktionierte noch immer in Luxemburg, und ich denke, es wird auch weiter funktionieren. 

Tageblatt: Die Reform der Pflegeversicherung wurde nach hinten verschoben. Wo stehen die Arbeiten?

Romain Schneider: Wir arbeiten mit der zuständigen parlamentarischen Kommission hart daran. Das Gutachten des Staatsrats wird Punkt für Punkt durchgenommen, verschiedene neue Ideen werden eingebracht. Auch alle anderen benötigten Gutächten liegen vor, alle Akteure wurden angehört. Lassen wir das Parlament jetzt seine Arbeit machen und dann sehen wir, was von etwaigen Forderungen noch übrig bleibt. Aber irgendwann muss schließlich auch der Moment der politischen Entscheidung kommen. Für die Planungssicherheit aller Betroffenen sollte die Reform zum 1. Januar 2018 in Kraft treten können. 

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